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Ist die pietas (Frömmigkeit) größer vor oder nach dem Essen? So ließe sich in Bezug auf die beiden Tischgebete von Robert Burns fragen, und die Antwort sollte sich in der jeweiligen kompositorischen Textbe-handlung spiegeln. Einerseits bewirkt Hunger oder bloß Appetit sicher eine gewisse Eile oder Unkonzentriertheit, andererseits mahnt das leibliche Bedürfnis auch an das ebensolche geistige, und erzeugt so eine besondere, beinahe schmerzliche Innigkeit. Von dieser ist die Komposition des Grace before Dinner bestimmt, dazu von konservativer, für geistliche Musik jahrhundertelang typischer strenger Polyphonie. Der Satz geht von der B-Dur-Tonleiter aus und schließt in Es-Dur, während der folgende Grace after Dinner von Es-Dur nach B zurückführt und so die beiden Sätze tonal zusammenschließt.

 

Der zweiten Satz, nach dem Mahl, ist mit seinem durchgehend homophonen Satz von wuchtiger Schwere, er ist, wenigstens musikalisch, sehr viel weniger beredt, und es gibt weniger Wiederholungen der Textabschnitte als im ersten Satz. Burns, der - bei übrigens ganz ähnlichen Lebensdaten - wie Mozart auch Freimaurer war, nimmt hier einen weiteren, für das Ende des 18. Jahrhunderts typischen Aspekt auf, der seinerzeit beinahe religiöse Züge annahm: die Verherrlichung der Freundschaft („The friend we trust“). So erscheint nun die pietas im Vergleich zu früheren Jahrhunderten, und im Vergleich zum Zustand vor dem Essen, auf zweierlei Weise korrumpiert: durch aufklärerisches Gedankengut und durch den gefüllten Magen, um nicht zu sagen Schafsmagen. Dieser letztere ist, mit einer würzigen Füllung aus Hafer und Schlachtabfällen, die Haggis genannte schottische Nationalspeise, an die Burns bei anderer Gelegenheit eine eigene Ode richtete.